Interview mit Olga Guzhva | September 2022
Artikel Nr. 4, September2022
Interview mit Olga Guzhva
"Krieg ist kein Hollywood-Film"
Von Olena Sadovnik
Am 23. Februar, einen Tag vor der großangelegten russischen Invasion in die Ukraine, arbeitete Olga Guzhva als lokale Produzentin für die norwegische VG Media in Hostomel, Butscha und Irpin. Sie und ihr Team wollten dort über Nacht bleiben, aber am Abend änderten sich die Pläne. Sie kehrten für einen neuen Redaktionsauftrag nach Kiew zurück und waren am Morgen, den 24. Februar, bereits auf dem Weg zu einem der Brennpunkte des Krieges. Derzeit ist Olga als Programmmanagerin am Institute for War and Peace Reporting (IWPR) tätig. Mit ihr sprachen wir darüber, wie sich ausländische Journalisten auf die Arbeit im Krieg vorbereiten sollten, um sich so gut wie möglich zu schützen, am Leben zu bleiben und zurückzukehren.
Olga Guzhva
Olja, Du hast enorme Erfahrung an vorderster Front. Was würdest Du Journalisten raten, die planen, in die Ukraine zu komment?
Erstens sollten ausländische Journalisten wissen, dass der Krieg kein Hollywood-Film ist, dass alles, was an der Front oder in der Nähe der Frontgebiete passiert, real ist. Der Gefahrengrad ist sehr hoch. Jedwede Schulung, die diese Leute gemacht haben und danach glaubten zu wissen, was sie tun sollten, gibt nicht ansatzweise eine Vorstellung davon, was wirklich an der Front passiert. Wenn sie hinfahren, um ein gutes Selfie zu machen, gutes Material zu bekommen oder einen Bericht zu liefern und ihr einziges Motiv ist, in die Geschichte einzugehen, weil sie Material an der Frontlinie gedreht haben, dann sollten sie es bleiben lassen.
Warum?
Die Lage an der Front verändert sich dynamisch. Wenn Sie nicht wissen, wie man ein Tourniquet anlegt, um Blutungen zu stoppen, wenn Sie sich selbst oder Ihrem verletzten Kollegen nicht helfen können, dann sind Sie nicht bereit, als Journalist an vorderster Front zu arbeiten. Das Anschauen von Videos auf YouTube zählt nicht, dies sollten eingeübte automatische Kompetenzen sein.
Was ist denn erforderlich?
Jedes Teammitglied muss über einen persönlichen Erste-Hilfe-Kasten verfügen – nicht im Geschäft gekauft, sondern persönlich bestückt. In einem Team sollten alle Erste-Hilfe-Kästen identisch sein – das rettet Leben, denn wir leisten keine Hilfe mit eigenen Sachen aus der eigenen Erste-Hilfe-Ausrüstung. Wir verwenden den Erste-Hilfe-Kasten der hilfebedürftigen Person. Wenn man verschiedene Erste-Hilfe-Kästen hat, kann folgende Situation auftreten: Sie öffnen den Kasten und dort ist alles anders gepackt, alles sieht anders aus, dadurch verlieren Sie Zeit. Daher ist es auch so wichtig, alles im Voraus abzustimmen.
Was ist mit einer kugelsicheren Schutzweste und einem Helm?
Das ist obligatorisch, darüber sprechen wir nicht mehr, weil es einfach ein Muss ist. Kugelsichere Weste und ein Helm – das sind Sachen, die wir nicht abnehmen, während wir uns in der sogenannten roten Zone befinden. Vor Raketenangriffen beispielsweise warnt eine Sirene, aber niemand warnt vor Artillerie und anderen Waffentypen, deren Schussreichweite 20 bis 30 Kilometer betragen kann. Sie fliegen einfach heran, und Sie haben sehr wenig Zeit, um in den Schutzraum zu rennen. Selbst wenn der in der Nähe ist, ist es bereits zu spät zum Laufen, Sie müssen sich zumindest auf den Boden werfen und wissen, dass die Trümmer etwa 15 bis 20, maximal 30 Zentimeter über dem Boden fliegen. Sie müssen sich richtig hinlegen, wie ein Teppich. Man muss trainieren. Wir führen gerade Schulungen für Journalisten durch, ziehen ihnen kugelsichere Westen an, und sie versuchen zu lernen, wie man richtig fällt, ohne sich zu verletzen. Ich habe oft genug gesehen, wie die Leute ihre Kameras vorsichtig ablegten – nein, das funktioniert im Krieg nicht.
Kann man denn als Ausländer alleine unterwegs sein?
Es ist zwingend erforderlich, einen lokalen Produzenten oder Fixer zu haben und zu verstehen, dass diese Person ein Mitglied des Teams ist, ein vollwertiges Mitglied. Sie müssen ihm zuhören und nicht nur Empfehlungen oder Aufgaben geben, zum Beispiel, Material aufzunehmen oder irgendwohin zu fahren.
Wie sieht es mit der Planung von Einsätzen aus?
Die Lage ändert sich ständig, daher müssen Aufträge je nach Umständen angepasst werden. Das muss vorher besprochen sein. So war das bei uns – wir hatten eine Aufgabe, konnten sogar zweimal täglich ein Zoom-Meeting mit der Chefredakteurin führen, die in Oslo saß. Da konnten wir uns gut abstimmen.
Hast Du ein Beispiel?
Wir haben Feuerwehrleute in der nördlichen Saltiwka in Charkiw begleitet. Es war alles mit ihnen besprochen, wir durften sie beim Einsatz begleiten. Aber dann bekamen die Feuerwehrleute einen Anruf, fuhren los, und wir haben sie verloren. Mussten dann anhalten und umkehren, einfach anhalten, umdrehen und in die entgegengesetzte Richtung fahren. Es war kein rationales Argument, die Entscheidung wurde intuitiv getroffen.
Wurdet Ihr beschossen?
Ja, der Beschuss begann. Wir waren dem Feuerwehrwagen gefolgt, konnten aber nicht nachkommen, weil wir an Kontrollpunkten angehalten wurden. Man muss sich nicht darauf konzentrieren, dass man zum Beispiel eine Frau in genau diesem Alter, genau an diesem Ort fotografieren möchte. Wenn Sie es nicht geschafft haben, aber am Leben geblieben sind, ist dies bereits eine gute Geschichte. Die Sicherheit steht an erster Stelle – kein einziges Foto, kein einziges Interview ist das Leben eines Menschen wert: sowohl eines Journalisten als auch einer begleitenden Person. Sie gefährden nicht nur Ihr Team, sondern auch Ihre Begleiter.
Wie kommuniziert Ihr miteinander?
Vor allem beim Betreten besetzter oder neu befreiter Gebiete, ist die Kommunikation ein Problem. Der Mobilfunk funktioniert normalerweise nicht, das wird oft vergessen. Plötzlich betreten Sie ein Gelände, in dem nichts mehr funktioniert. Wenn das Unternehmen keine Satellitenkommunikation anbieten kann, hilft es, vom Militär begleitet zu werden, - man sollte dafür zwei Funkgeräte besorgen: eines für das eigene Auto, das andere für den Wagen des Militärs – dann sind Sie ständig mit den Soldaten in Kontakt.
Wie gefährlich ist es in befreiten Gebieten?
Es scheint, dass dort nicht geschossen wird, nichts passiert, das heißt, alles sieht okay aus. Oft sind diese Gebiete aber extrem stark vermint. Mitarbeiter des staatlichen Rettungsdienstes gehen davon aus, dass die Minenräumung etwa 20 Jahre dauern wird. Das heißt, Minen in verschiedensten Formaten, nicht explodierte Granaten – sie können überall sein. Insofern ist das eine ernsthafte Prüfung für Reporter, die sehr dynamisch sind, nicht statisch arbeiten, es gewohnt sind, eine Fokusstory zu finden. Ein falscher Schritt kann sehr teuer werden, er kann das Leben kosten. Es kann eine Sprengfalle, eine nicht explodierte Granate sein, die selbst für das Militär, geschweige denn für Zivilisten, sehr schwer zu identifizieren sind.
Gibt es Themen, über die Ihr nicht berichtet?
Dabei spielt die Ethik eine wichtige Rolle. Was ist ein sensibles Thema, was nicht. Die Interviewführung ausländischer Journalisten unterscheidet sich von der ukrainischer Journalisten. Das heißt, ukrainische Journalisten wollen die Antwort in einem ganz anderen Kontext hören, während die ausländischen Journalisten sehr oft fast ausschließlich eine Emotion sehen wollen. Sie stellen sensible Fragen wie „Was haben Sie gefühlt?“, „Welche Emotionen hatten Sie?“ In Bezug auf journalistische und ethische Standards ist es in Ordnung, wir können ihnen nicht sagen: „Tun Sie das nicht, das ist schlecht“, aber in Bezug auf die Verfassung des Menschen, der versucht, sich zusammenzureißen...
Hast Du ein Beispiel?
Ich selbst habe in Kiew oft Interviews gegeben, und beim zehnten Mal wurde mir klar, dass diese Frage „Wie fühlen Sie sich? Sie sind hier und Ihre Tochter ist dort und da wird geschossen.“ Dich überwältigt. Du antwortest auf die ersten par Fragen völlig normal und dann passiert es, und Du kannst nichts dagegen tun. Ich habe einem Journalisten gesagt: Verstehen Sie, dass Sie Emotionen provozieren? Wenn Sie das tun, dann müssen Sie mich wieder in einen normalen Zustand bringen, damit ich nachdenken, mich zusammenreißen und die Situation wieder rational wahrnehmen kann..."
Wie soll man als Journalist eine Reise in die Ukraine planen?
Ich würde davon abraten, sich an einzelne Personen zu wenden, das macht kein Profi. Am besten wendet man sich an seriöse Organisationen, die einen guten Ruf haben und Personen, mit denen sie zusammenarbeiten, überprüfen können. Unser Projekt IWPR Institute for War & Peace Reporting befasst sich damit. Wir führen auch viele Sicherheits- und Themenschulungen durch. Aktuell diskutieren wir besonders über Kriegsverbrechen, wie man darüber berichtet, wie man sie richtig benennt. Wir laden dazu Fachleute, Juristen und Mediziner ein. Das Media Forum Lemberg, das Ukrainische Medienzentrum und die Kommission für Journalistenethik arbeiten ähnlich und treten als unsere Partner in diesem Bereich auf.