Interview mit Alyona Vyshnytska | August 2022


Artikel Nr. 3, August 2022

Interview mit Alyona Vyshnytska, der Gründerin des Projekts "Krieg.Geschichten aus dr Ukraine"

Instagram: https://www.instagram.com/war.stories.from.ukraine/

Website: https://www.warstoriesukraine.com/famine/

Von Olena Sadovnik

 

Erzähl bitte, wie die Idee von "Krieg. Geschichten aus der Ukraine" entstanden ist?

„Alles begann ganz spontan. Während der ersten fünf oder sechs Tage des totalen Krieges konnte ich im Grunde genommen gar nichts tun. Ich habe nicht geschlafen und kaum gegessen. Wir waren in Riwne im Nordwesten der Ukraine, mit Freunden sind wir ins Freiwilligenzentrum gegangen, wo unsere Hände gebraucht wurden. Ich habe mehrere Stunden damit verbracht, Spritzen unterschiedlicher Größe zu sortieren. Es war eine einfache, einfach zu verstehende Arbeit, und das war das Einzige, wozu ich damals fähig war. Währenddessen haben mir viele Leute aus dem Ausland geschrieben - meine Freunde, Kollegen, alle haben gefragt, was in der Ukraine passiert. Jeden Tag haben sie Nachrichten gelesen, aber sie wollten eine wahre menschliche Geschichte hören. Da ich die Person war, die sie kannten, wollten sie es von mir wissen.

 
<i>Foto: Alyona Vyshnytska</i>

Foto: Alyona Vyshnytska

Wie kam es dazu, dass gleich ein ganzes Netzwerk von Autorinnen und Autoren entstanden ist?

Es kam ein Moment, in dem ich bereits begann, mich von dem Schock zu erholen. Dann wurde mir klar, dass ich doch etwas tun kann. Ich beschäftige mich schon sehr lange mit dem Schreiben und Lektorieren von Texten. Und ich dachte, dass es Sinn macht, Geschichten von Menschen aus der ganzen Ukraine aufzuschreiben, die den Krieg durchmachen, ihre unterschiedlichen Erfahrungen, sie zu übersetzen und zu veröffentlichen – zunächst in sozialen Netzwerken, auf ganz unterschiedlichen Plattformen. Ich rief meine Kollegen an, und wir gründeten ein Netzwerk mit mehr als 100 Mitgliedern, die zu Autoren, Journalisten, Redakteuren, Übersetzern, Illustratoren, Fachleuten, die Audiotexte entschlüsselten, wurden. Wir hatten eine Social Media-Frau, eine Kommunikationsmanagerin und PR-Leute.

Worüber schreibt Ihr?

Wir haben erkannt, dass es sehr wichtig ist, das menschliche Gesicht dieses Krieges zu erklären und zu zeigen, weil eine Person eine andere Person am besten verstehen kann. Wenn jemand in den Nachrichten liest, dass drei oder 20 Menschen an einer Bushaltestelle ums Leben gekommen sind, sagt das einem gar nichts. Es ist aber eine völlig andere Sache, wenn man darüber liest, wie andere Menschen den Krieg durchmachen, woran sie denken, über das frühere Leben der Menschen vor der großangelegten Invasion. Ihr Leben war dem der Leser sehr ähnlich, es waren Menschen, die Haustiere hatten, Kissen bei IKEA kauften, ihren Haushalt einrichteten usw.

In welchem Tempo hat sich die Zusammenarbeit entwickelt?

Das Projekt startete sehr schnell und am Anfang veröffentlichten wir fünf bis acht Geschichten pro Tag. Es war ein wahnsinniges Tempo. Es sollte jedoch berücksichtigt werden, dass es damals so aussah, als würde der Krieg in einer Woche, höchstens in einem Monat enden. Dann änderte sich alles ein wenig, denn es wurde klar, dass der Krieg nicht so schnell enden würde. Außerdem waren die Leute, die an diesem Projekt arbeiteten, etwas erschöpft: nicht wegen der Arbeit, sondern weil man unter Kriegsbedingungen lebt und man sich nie darauf vorbereitet hat. Natürlich dauert der Krieg in der Ukraine schon seit acht Jahren, aber niemand hat mit so einer umfassenden und zynischen Invasion gerechnet.

Wie oft und wo erscheinen Eure Geschichten?

Wir veröffentlichen derzeit einige Geschichten pro Woche, versuchen aber, sie länger und tiefer zu machen. In den letzten Monaten sind wir Partner des Lemberger Medienforums geworden. Sie gaben uns die Gelegenheit, zehn große Geschichten über die allgemeine Entwicklung zu schreiben, die auf menschlichen Geschichten basieren. Das haben wir auch früher gemacht, nun besteht aber die Hauptaufgabe darin, über verschiedene Lebensbereiche in der Ukraine zu erzählen. Außerdem haben wir uns mehr darauf konzentriert, die Texte unter asiatischen und afrikanischen Lesern zu verbreiten, weil viele Leute jetzt mit Europa zusammenarbeiten, aber die russische Propaganda konzentriert sich aktiv auf Asien und Afrika.

 
 

Ist dies eine ehrenamtliche Initiative für Euch, habt Ihr Euch registrieren lassen oder plant Ihr eine Registrierung?

Wir sind noch nicht registriert, weder als Organisation noch als Medien, weil wir einfach nicht dazu kamen. Tatsächlich haben wir alles auf ehrenamtlicher Basis gemacht. Wir wurden von einigen Partnerorganisationen finanziell unterstützt. Das machte es uns möglich, eine bestimmte Menge an Content zu erstellen und die Leute zu bezahlen, die daran gearbeitet haben, aber es war ein Minimum. Pläne – solange der Krieg andauert, wollen wir unsere Arbeit fortsetzen. Wir wollen ein wenig ändern und mehr Spenden sammeln. Nicht alle haben daneben noch eine Beschäftigung, das ist ein Problem. Daher suchen wir insbesondere nach verschiedenen dauerhaften Finanzierungsmöglichkeiten und wollen uns im Herbst damit aktiv beschäftigen.

Dieses Interview richtet sich in erster Linie an die Mitglieder des Presseclubs Wiesbaden. Was möchtest Du deinen Kolleginnen und Kollegen in Deutschland sagen?

Ich bin kürzlich von einer Geschäftsreise aus Berlin zurückgekehrt. Der Krieg Russlands gegen die zivilisierte Welt ist nicht so weit entfernt, wie es in Deutschland scheinen mag. Denn das Hauptmoto der Russen lautet „Wir können es wiederholen“. Dieser Satz „Wir können es wiederholen“ wird mit Fotos aus Berlin während des Zweiten Weltkriegs illustriert. Sie zeigen sehr deutlich, dass Russland gewisse Ambitionen hat, das Szenario des Zweiten Weltkriegs zu wiederholen. Daher kann eine Untätigkeit jetzt sehr schwerwiegende negative Folgen für alle Einwohner Deutschlands haben. Die Wahl zwischen einer Gaspreiserhöhung um ein paar Euro und einer stabilen demokratischen Zukunft sollte offensichtlich sein.

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»Ich bin Mitglied im Presseclub, weil ich neugierig darauf war, was ein Presseclub so macht und ich mich besser in der Region vernetzen möchte.«


Susanne Löffler, Public Relations, Museum Wiesbaden